Erschienen in:
Deutschlands größtes Naturreise-Magazin
14 Seiten | Text & Fotos
„Lauft nie ohne Licht in der Höhle herum, da sich überall bis zu 100 Meter tiefe Löcher oder Abgründe auftun könnten!“ schärft uns der britische Höhlenforscher Howard Limbert ein. Ich sitze im Sicherheitsbriefing auf dem Gelände von Oxalis, dem Lizenznehmer und damit einzigen Veranstalter von Expeditionen in die Son Doong Höhle.
Neben mir neun weitere Expeditionsteilnehmer, darunter ein amerikanischer Landschaftsfotograf, ein australischer Ölarbeiter und ein thailändischer YouTube Star. Howard warnt uns: „Haltet eure Füße trocken. Reibt sie jeden Abend mit Talkum ein, ansonsten droht euch das…“
Er zeigt uns Bilder von Füßen mit unappetitlichen Krankheiten, die aus einem Horrorfilm zu stammen scheinen. Nachdem wir von allerlei Gefahren wie Schlangen, Hautabschürfungen, Fußfäule und Abstürzen gehört haben, schlurfen wir nach zwei Stunden alle etwas eingeschüchtert in unsere Unterkunft.
Am nächsten Morgen herrscht auf dem Gelände von Oxalis ein reges Treiben. Hier tummelt sich das gesamte Expeditionsteam: 20 Träger, 10 Mitglieder, 5 Fotoassistenten, 2 britischen Höhlenforscher, eine vietnamesischen Höhlenführerin, 2 Köche, 2 Nationalpark-Ranger und der Chef der Trägertruppe. Letzterer überwacht die Verteilung des gesamten Expeditionsgepäcks: Zelte, Verpflegung für fünf Tage, Bekleidung, Kletterausrüstung, Kochgeschirr und Besteck, Medikamente und vieles mehr.
Die Träger stopfen alles in unzählige grüne Kunststoffrucksäcke bis diese kaum mehr anzuheben sind. Ich bemerke die nur zwei Finger breiten Schultergurte der Rucksäcke und bin froh, die nächsten fünf Tage nicht zu den Trägern zu gehören.
Nach einer einstündigen Busfahrt wird das gesamte Team am Ausgangspunkt abgesetzt. Wir setzen unsere Rucksäcke auf und marschieren entlang eines stetig bergab verlaufenden Pfads. Nach ungefähr einer Stunde durchqueren wir das erste Mal den Rao-Thuong-Fluss.
Unser Höhlenführer Ian ‚Watto‘ Watson, eine 62-jährige britische Dampfmaschine, erinnert uns lautstark im breitesten Yorkshire-Slang: „Denkt nicht mal daran, Eure Socken auszuwringen. Das kostet viel zu viel Zeit! In zwei Minuten müssen wir sowieso wieder durch den Fluss.“
Die meisten von uns tragen spezielle Canyoning-Stiefel, aus denen das Wasser wieder abläuft. Ich habe mich für Cross-Country-Schuhe entschieden und entdecke jetzt neben den Schnürsenkel den winzigen Aufdruck „Gore Tex“. D.h. das Flusswasser bleibt in mein Schuhen und ein rhythmisches ‚Kwitsch-Kwatsch‘ begleitet mich den ganzen Tag. Mir schießen plötzlich die furchtbaren Bilder der entstellten Füße vom Vorabend wieder in den Kopf. Hoffentlich geht alles gut!
Die Zelte erscheinen wie bunte Legosteinchen im Maul eines gigantischen Steinmonsters.
Nach einer Weile passieren wir das winzige Dorf Ban Doong mit gerade einmal 35 bis 40 Einwohnern. Ich lächele ein Mädchen an und zeige auf meine Kamera. Sie lächelt zurück und nickt.
Zwei Stunden wandern wir in der inzwischen gnadenlosen stechenden Sonne weiter flussaufwärts und durchqueren zahllose weitere Male den Fluss. Alles unterhalb des Bauchnabels ist und bleibt triefend nass. Auf einmal verschwindet der Fluss in einer immensen Felsmauer. Watto dreht sich zu uns: „Willkommen in der Hang En Höhle! Morgen marschieren wir da durch, um zur Son Doong zu gelangen.“
Wir machen kurz Rast und legen unsere Höhlenausrüstung an: einen Helm mit starker Lampe sowie robuste Handschuhe, die uns vor den messerscharfen Felsen schützen. Wir kämpfen uns durch riesige Steinblöcke langsam in der Höhle aufwärts. So müssen sich Ameisen fühlen. Ich blicke von einer erhöhten Position auf unser Nachtlager herunter, die Zelte dort erscheinen wie bunte Legosteinchen im Maul eines gigantischen Steinmonsters.
Eine halbe Stunde später erreichen wir das Zeltlager. Ein paar von uns erfrischen sich im Wasser und lassen sich von Dutzenden Galafischen die Hautreste abknabbern. 80 Meter über uns zwitschern munter Abertausende Mauersegler.
Zum Abendessen zaubert uns die vietnamesische Koch Crew aus ihrer mobilen Garküche eine Vielzahl frischer Leckereien aus Klebereis, Kohl, Omeletten, Auberginen, Tomaten, Zwiebeln, Erdnüssen, Kartoffeln und Schweinefleisch. „Abnehmen werdet ihr hier definitiv nicht!“ lacht Watto.
Gleich früh am nächsten Morgen brechen wir auf, um die Hang En Höhle zu durchqueren. Nach etwa einer Stunde erreichen wir den monumentalen Höhlenausgang.
Nach drei weiteren Stunden Wanderung am und im Fluss sowie einigen Kletterpartien durch den dichtbewachsenen Dschungel erreichen wir die letzte Station vor der Son Doong Höhle. Ich stärke mich mit Müsli- und Schokoriegeln und lege die Kletterausrüstung an.
Nach einem letzten kräfteraubenden Durchgang stehen wir staunend vor einem dampfenden Schlund aus Fels und Stein: der Eingang der Son Doong Höhle! Kalte Luft, tief aus den Eingeweiden der Höhle, trifft hier auf die Tageshitze und kondensiert zu Dunstschwaden. Genau hier stand der Vietnamese Ho Khanh 1990, als er vor einem tropischen Regen Schutz suchte.
Er kletterte damals ein paar Meter in die Höhle, bis es zu steil und rutschig wurde. Ho Khanh gilt als Entdecker der Höhle, aber er ahnte damals noch nichts von deren gewaltigen Ausmaßen.
Nach einem vergeblichen Versuch gelang es ihm erst 2008, den Eingang wiederzufinden. Anschließend vertraute er sich Howard Limbert an, der ein Jahr später eine Expedition zusammenstellte, die die Höhle erstmalig erkundete.
Howard erinnert sich: „Damals, als wir einstiegen, wussten wir nicht, dass wir es hier mit der größten Höhle der Welt zu tun haben. Es war so, als wärst Du Bergsteiger und findest einen neuen Mount Everest. Das war ein absoluter Leckerbissen für uns Höhlenforscher!“
Einer der seltenen Augenblicke, in denen ich die Kamera mal nicht trage. Ich habe sie eben gerade dem vor mit gehenden Träger gegeben, weil sie sonst wohl gegen die Felsen geschrammt wäre. Und der Träger macht natürlich gleich ein Bild. Übrigens: Die Handschuhe schützen übrigens vor den scharfen Steinen.
Direkt hinter dem Höhleneingang geht es steil bergab. Wir seilen uns 80 Meter in die Dunkelheit, durchqueren anschließend brusttiefe unterirdische Flüsse und klettern über scharfe Felsen.
Ich marschiere immer wieder durch plötzlich auftauchende ‚Dampfbäder‘, die mir die Sicht vernebeln: unterirdische Wolken! Anette, unsere junge vietnamesische Höhlenführerin, erklärt: „Die Son Doong Höhle hat ein eigenes Klima, weil sie so groß ist. Im Höhlendach gibt es mehrere Öffnungen, so dass die Luft zirkulieren kann und Winde entstehen.“
Meine Stirnlampe leuchtet den Weg vor meinen Füßen gut aus, beim Blick Richtung Höhlendecke verliert sich der Schein jedoch im Nichts. Die rekordträchtigen Dimensionen der Höhle lassen sich erst mit den starken Höhlenlampen aus Schweden so richtig bestaunen.
Die Son Doong Höhle gilt mit ihren Maximaldimensionen von 200 m Höhe, 145 m Breite und 5 km Länge als größte Höhlenpassage der Welt. Dieses Volumen entspricht dem 139fachen des Empire State Buildings.
In der Son Doong Höhle finden sich keine Wege, Treppen oder ähnliche Annehmlichkeiten. Jeder Schritt, jeder Griff muss mit höchster Aufmerksamkeit gesetzt werden. Wer stolpert, ausrutscht oder abrutscht, kann tief fallen oder sich Stauchungen zuziehen.
Wunden können bei der ständigen Feuchtigkeit kaum abheilen. Ich bewundere die vietnamesischen Träger, die mit ihren übermannshohen, gewichtigen Rucksäcken – und lediglich Plastiksandalen an ihren Füßen – singend, scherzend und Zigarette rauchend an mir vorbei springen.
Auf einmal taucht am Horizont ein Lichtschimmer auf: Eine Doline, ein natürlicher Lichtschacht. Über Millionen Jahre hat sich der unterirdische Fluss einen Tunnel durch den Fels gefressen. Dabei ist die Felsdecke immer dünner geworden und irgendwann eingebrochen. Vor der Doline schlagen wir unser zweites Nachtlager auf. Ich bin dankbar, in der Höhle Tageslicht genießen zu dürfen.
Am nächsten Morgen kämpfen wir uns eine Stunde lang durch riesige Geröllbrocken, immer dem Licht der Doline entgegen. Vor unseren Augen erstreckt sich ein riesiges Grün, das durch eine steile, glitschige Wand ringsherum begrenzt ist, die sich senkrecht 200 Meter bis zur Öffnung der Doline hinaufzieht.
Ich stapfe an Pflanzen, Büschen und bis zu 30 Meter hohen Bäumen vorbei. „Dieser Höhlendschungel ist weltweit einmalig“ erläutert Watto, „ein leckerer Cocktail aus Luftfeuchtigkeit, Fledermauskot und Tageslicht hat hier ein eigenes Ökosystem sprießen lassen. Und weil es hier so urzeitlich aussieht, haben meine Höhlenkumpels aus Yorkshire diese Doline ‚Watch out for Dinosaurs‘ getauft.“
Es waren bereits mehr Menschen auf dem Gipfel des Mount Everest als in den Tiefen dieser Höhle
Am gegenüberliegenden Ende angelangt, steigen wir wieder ins Dunkel der Höhle hinab. Stunden später darauf gelangen wir in Sichtweite der zweiten Doline. Drei Assistenten gehen mit den starken Höhlenlampen voraus, um unser Motiv, den Aufgang zur zweiten Doline, ausreichend zu beleuchten.
Bis sie am richtigen Platz stehen, vergehen 15 Minuten, die wir Verbliebenen als willkommene Verschnaufpause nutzen. Für mich sind solche Zeiten wichtig, mir immer wieder zu vergegenwärtigen, an welch besonderem Ort ich mich gerade befinde. Ich möchte jeden Moment hier wertschätzen – schließlich waren bereits mehr Menschen auf dem Gipfel des Mount Everest als in den Tiefen dieser Höhle.
Nachdem wir auch die zweite Doline hinter uns gelassen haben, schlagen wir unser zweites Nachtlager auf. Nach dem Abendessen klettern wir noch tiefer in die Höhle, bis wir eine etwa 400 Meter lange Kammer erreichen. Sie ist so groß, dass wir dieses Mal sogar sechs Personen benötigen, um sie gänzlich zu beleuchten.
Ich baue mein Stativ auf und will meine Kamera reinigen, aber ich finde an meinem Körper keine trockene Faser mehr. Die Hüfte bis zu den Schuhen ist vom Flusswasser durchnässt, alles oberhalb der Hüfte bis unter den Helm ist durchgeschwitzt.
Tim, der amerikanische Fotograf, stolpert beim Zurückgehen über einen Stein und fällt unglücklich auf seine Kamera. „Shit!“, flucht er und blickt mit finsterer Miene auf seine demolierte Nikon und das zerschmetterte Weitwinkelobjektiv. Zum Glück hat er noch eine zweite Kamera dabei.
Die Son Doong Höhlenbegehung ist nichts für Unsportliche oder Ängstliche. Immer wieder müssen wir uns anseilen, abseilen oder Flüsse durchqueren, in denen wir bis zur Brust einsinken.
Wir durchqueren die Kammer und gelangen dahinter an einen See. „Hah, was für ein Schweineglück!“, quiekt Watto, „Normalerweise müssten wir uns hier durch knietiefen Schlamm quälen, aber der Regen der vergangenen Wochen ist noch nicht abgeflossen. Ich kann euch jetzt auf eine kleine Paddeltour einladen!“
Die ersten von uns besteigen die Boote und lassen die Höhlenlampen hell erleuchten. Von meinem Standpunkt aus kann ich 600 Meter weit bis zum Ende der Son Doong Höhle blicken. Es ist wahrlich atemberaubend. Unvergesslich!
Dann besteige auch ich ein Boot und paddle bis ans hintere Ende des Sees. Hier, am Höhlenende, ragt die 200 Meter hohe, sehr rutschige ‚Große Mauer von Vietnam‘ aus dem Wasser. Um zum Hinterausgang der Höhle zu gelangen, müssten wir die Mauer überwinden und uns im Anschluss durch schwer passierbaren, zähen Morast quälen. Da das definitiv zu gefährlich und kräftezehrend wäre, sehen meine ‚Cavemates‘ und ich demütig davon ab.
Ein paar von uns nutzen stattdessen die Gelegenheit, streifen die Ausrüstung ab und springen ins herrlich kühle, kristallklare Wasser. Ich befreie mich von Schweiß, Staub und Sand, bevor wir uns anschließend auf den eineinhalbtägigen Marsch zurück zum Eingang der Höhle begeben.
Erst wenn wir uns wagen, spüren wir den Wert des Lebens
Zurück in Berlin. Ich frage mich: Warum setzt man sich eigentlich Wagnissen, Gefahren aus? Warum überhaupt Abenteuer? Eine Antwort nähert sich, im Gewand einer weiteren Frage: Wann sehnen wir uns nach Zuhause, nach der Heimat?
Nicht, wenn wir auf dem Sofa oder im Garten sitzen. Sondern immer dann, wenn wir der Fremde, dem Anderssein ausgesetzt sind. Erst in der Distanz wird uns der Wert ‚Zuhause‘ gewahr und kann starke Emotionen freisetzen. Nicht umsonst sprechen wir von Heimweh.
Mit dem Eingehen von Abenteuern und Wagnissen verhält es sich genauso. Das, was im strengen Korsett des Alltags nicht möglich ist, kann auf Reisen, in persönlichen Abenteuern ausgelebt werden.
Die gewonnenen Erlebnisse, gewürzt mit einer gehörigen Prise Risiko, besitzen den Charakter der Einmaligkeit. Es sind mächtige, erhebende und unvergessliche Sturmwellen im sonst gemächlichen Ozean unserer persönlichen Geschichte. Oder kurz gesagt: Erst wenn wir uns wagen, spüren wir den Wert des Lebens.
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